Nur ein Fussballspiel
Einmal ein Spiel der Boca Juniors in ihrem Heimatstadion Bombonera miterleben. Das hatte ich mir fest vorgenommen, seit ich bei meinem letzten Besuch in Buenos Aires vor einem Jahr im Stadion der Rivalen River Plate gewesen war. Ich hatte in einem Bericht gelesen, dass in dem Stadion eine ganz besondere Stimmung herrscht und es von den Bewegungen der begeisterten Zuschauer beben würde.
Nachdem die Hälfte meines Urlaubes vorbei war begann ich, mich um ein Ticket zu kümmern. Ich schaute im Internet auf der Vereinsseite nach näheren Informationen. Diese bot aber zu meiner Überraschung wenig, es fehlte sogar eine Telefonnummer zum Nachfragen. Auf einer anderen Website fand ich Tickets, die im argentinischen Ausland für um die 250 Euro angeboten wurden. Was für eine Abzocke.
Überteuerte Angebote kannte ich schon. Im letzten Jahr bei River Plate hatte ich über die Agentur Go Football 200 Pesos, was ungefähr 35 Euro entsprach, bezahlt. Dazu gehörten zwar auch die Transfers, aber wir wurden dabei schon drei Stunden vor Spielbeginn am Stadion abgesetzt. Ich wollte diesmal nur exakt den Preis zahlen, der auf dem Ticket stand, und den Zeitpunkt meiner Anfahrt wollte ich auch selbst bestimmen.
Ich suchte weiter und fragte in einem Computer-Netzwerk nach, welches ich gern für Reistips nutze. Der einzige, der antwortete war Tony, ein fussballbegeisterter Engländer, der mir ganz genau beschrieb, in welchem Block vom Stadion ich sitzen und von welchem ich mich fernhalten sollte. Ich schrieb mir alles genau ab in mein Notizbüchlein. Tony gab einen ungefähren Preis für das Ticket an und schrieb mir auch, dass die Tickets nur direkt am Stadion verkauft werden. Der von mir gewünschte Stehplatz sollte laut Tony um die 50 Pesos kosten, das entsprach 9 Euro und meinen Vorstellungen. Wieder einmal hatte ich einen Weg entdeckt, dem Touri-Nepp zu entgehen.
Ich betrachte mich auf meinen privaten Abenteuer- und Städtereisen immer als eine Reisende, nicht als Touristin. Auf englisch hört sich das besser an: „I´m a traveller, not a tourist“. Nun kannte ich die Rahmenbedingungen. Nur zu welchem Zeitpunkt ich das Ticket kaufen konnte, das vermochte Tony mir nicht zu sagen.
Am Abend war ich auf einen Drink verabredet, und meine argentinische Freundin Maria sagte zu zwei ihrer Bekannten, die neben uns standen, hey, ihr beiden seit doch Clubmitglieder bei den Boca Juniors, wo kann man denn ein Ticket für das Spiel am Sonntag kaufen? Die kann man nicht öffentlich kaufen, antworteten beide gleichzeitig.
Das konnte ich nun gar nicht glauben. Ich rief meinen Chef Tomas an und auch er hatte einen Bekannten, der Mitglied im Club war. Tomas rief mich sofort zurück. Er hatte die gleiche Antwort erhalten. Man könne keine Tickets als Nicht-Mitglied kaufen, höchstens über den Wiederverkauf. Das war nun wirklich absurd.
Diese oft wie aus der Pistole kommenden „geht nicht“-Aussagen der Argentinier mag ich gar nicht, sie regen mich jedes Mal mehr auf. „Könnte aber gehen“ würde ich oft sagen und beginne auch manchmal eine Diskussion. Meist endet diese damit, womit sie begonnen hat: Es geht nicht.
Nun begann ich, an der Richtigkeit von Tonys Informationen zu zweifeln. Ich kannte ihn ja gar nicht. Aber er war doch so ein grosser Fussballfan, er wohnte sogar im Viertel La Boca. Ich schrieb ihn erneut an und er versicherte mir umgehend, dass er sich schon etliche Male am Stadion ohne Probleme Tickets besorgt hatte. Nur warum sollte ein Ausländer besser bescheid wissen als die Clubmitglieder? Mir schien, die Einheimischen wussten selbst nicht richtig Bescheid. Oder gab es unter den Vereinsmitgliedern vielleicht eine geheime Absprache dahingehend, dass diese negative Antwort nach außen gegeben werden sollte? Was für ein abwegiger Gedanke, der mir da gerade in den Sinn kam.
Die Zeit drängte, es waren nur noch zwei Tage bis zum Spiel, und am Tag darauf ging mein Rückflug. Es musste also jetzt unbedingt klappen, und wenn ich dazu mit dem Kopf durch die Wand oder zu Diego Maradona persönlich gehen musste. Jetzt wollte ich direkt zum Verein fahren und an die Tür klopfen. Irgendjemand musste dort doch eine zuverlässige Auskunft geben können darüber, wie das mit den Tickets läuft.
So setzte ich mich nach der Arbeit auf mein Fahrrad und radelte nach La Boca. Dort angekommen, irrte ich kurz mit anderen Ausländern vor den geschlossenen Ticketschaltern herum, schob mein Rad dann aber schnurstracks auf das grosse Gittertor mit dem Wachhäuschen zu. Ich wollte da jetzt rein und einen Menschen befragen, nicht nur Schilder lesen und vor allem keine falschen Aussagen mehr hören. Direkt an der Quelle wollte ich die positive Wahrheit finden: Es gibt theoretisch gern eine Eintrittskarte für Jessica.
Die Sicherheits-Bude war aber leer. Den gepflasterten Weg entlang blickend, sah ich vor dem Eingang des Clubhauses den Wachmann in ein Gespräch vertieft. Ich stellte mich demonstrativ vor dem Tor auf, nachdem ich mein Fahrrad daran angeschlossen hatte. Fahrrad fährt in Buenos Aires so gut wie niemand, und Frauen noch weniger als Niemand. Alle finden es zu gefährlich. Das hat den Vorteil, dass einem auf der Strasse die volle Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen sicher ist.
Auch der Wachmann des Boca-Vereins sah mich gleich neugierig an und bedeutete mir durch sein Winken, ich solle reinkommen. Ich war von meinem Ziel nur noch wenige Meter entfernt: Die Wahrheit über den Vertrieb der Stadiontickets der Boca Juniors.
Wann werden denn hier die Tickets verkauft für übermorgen, fragte ich ihn mit sicherer Stimme. Am Sonntag um 11 Uhr vor dem Spiel, antwortete er ebenso sicher. Hier um die Ecke, an den Ticketschaltern? Ja, dort. Die Sonne schien jetzt nicht nur am Himmel sondern auch über mein ganzes Gesicht.
Ich gratulierte mir in Gedanken zu meiner Idee, zum Herausfinden dieser Information direkt zum Stadion zu fahren, verließ den gesicherten Eingangsbereich des Clubs und schloss die hohe Gittertür wieder hinter mir. Vor mir am Tor waren zwei blonde Ausländer, die herumliefen um das Gleiche zu ergründen. Gönnerhaft gab ich ihnen meine gerade gewonnenen Kenntnisse weiter.
Als ich schon wieder losfahren wollte fiel mir ein, dass die Aussage des Wachmanns auch falsch sein konnte. Vielleicht war dieser Argentinier ja wie ein Chinese, der einem immer eine Antwort gibt, egal ob er die Wahrheit wirklich wusste oder nicht. Ich brauchte eine zweite Meinung.
Ein paar Meter weiter fand ich das riesige Seitentor neben dem Stadion geöffnet, ging auf die Schranke zu, befragte dort einen weiteren Sicherheitsmann. Ich stellte ihm die gleiche Frage und bekam die gleiche Antwort. Nun erst war ich zufrieden.
Dann endlich war es Sonntag morgen, wie immer waren die Strassen noch menschen- und vor allem Auto-leer. Die Sonne schien schon warm und leuchtete herrlich hell, die Stille ließ mich fast glauben, ich sei in einer viel kleineren Stadt im europäischen Süden, statt in dem sonst so nervtötendenden Verkehr von Buenos Aires unterwegs.
Ich gab das geliehene Fahrrad meiner Freundin Maria zurück, die auch in La Boca lebte und begab mich zu Fuß hinüber zum Stadion. Es war schon kurz nach elf.
Was war ich aufgeregt. Ob Tony recht gehabt hatte, als er mir erklärt hatte, das Spiel sei in der laufenden Saison nicht so wichtig? Oder war ich viel zu spät gekommen und die Schlange vor den Ticketschaltern seit dem Morgengrauen schon ins Unermessliche gewachsen? Sehr neugierig ging ich an diesem herrlichen Sonntag die ruhigen Strassen von La Boca entlang, bis ich das Stadion schon hinter den Häuserblocks hervorragen sah. Extrem angespannt bog ich um die Ecke. Und blickte auf die Schlange. Sie endete, sie war absehbar, sie bewegte sich bereits. Ich fühlte mich jetzt schon wie eine Gewinnerin.
Mit meinem inneren Lächeln stellte ich mich hinten an der Schlange an. Wir bewegten uns im zuckelnden Pulk schlängelnd auf die Ecke zu. Sicherheitsleute kontrollierten den Einlass zur Ticketzone. Ich war schon bis um die Ecke gekommen, nur noch zirka fünf Meter vom ersten Schalter entfernt, als ein Sicherheitsmann mir seinen muskulösen Arm vor die Brust hielt. Stop. Was ist los? Ist das Spiel schon ausverkauft? Warte hier, sagte er. Ich bekam Angst. Nein, alles war gut, das galt nur dem geregelten Ablauf.
Und dann stand ich endlich vor einem der zehn Ticketfenster, hatte Mühe, meiner Begeisterung über das Erreichen meines Ziels nicht jetzt und sofort lautstark Ausdruck zu geben, sagte mein Sprüchlein auf für die richtige Tribüne, bezahlte 30 Pesos und starrte auf das kleine Stück Papier in meiner Hand. Scheckkartengross, meine Zugangsberechtigung für das Stadion und ein Spiel der Boca Juniors. Mir war es egal, was die anderen Menschen von mir dachten, ich benahm mich nicht gesittet, sondern riss die Arme hoch und jubelte in Siegerpose allen, an denen ich vorbeiging, zu. Überglücklich, war nun endlich die Ungewissheit besiegt. Das Ticket war mein Pokal, ich hatte meine Meisterschaft bereits gewonnen.
Ich fuhr mit dem Bus zurück nach Hause. Die verbleibenden Stunden bis zum Spiel verbrachte ich mit der Überlegung, was Frau am besten zum Fussballspiel in einem nicht ganz ungefährlichen Teil der Stadt anzieht. Eine lange Hose war besser als mein Sommerkleidchen, ich zog mich um.
Dann machte ich es mir ganz bequem und bestellte ein Taxi, um mich am frühen Abend gemütlich zurück zum Stadion chauffieren zu lassen. Ich war ganz allein auf meinem eigenen Abenteuertrip, allen voraus, die keine Lust gehabt hatten mitzukommen. Ich machte mich auf der Rückbank des Taxis breit und genoss die Fahrt.
Just in dem Moment, an dem wir uns der Abzweigung nach La Boca näherten, hörte ich im Radio etwas, das im Bezug zum bevorstehenden Spiel zu stehen schien. Ich hatte den Anfang der Mitteilung verpasst und der Ton war zu leise gestellt. Ich verstand „Boca – 86-jährige Frau – Kopfverletzung – Fans – Schussverletzung – Koma.“ Erschrocken sah ich den Taxifahrer über seinen Rückspiegel an. Er verzog keine Miene. Das gab mir sofort meine innere Ruhe zurück, ich wollte jetzt nichts Negatives hören, sah keine Straßensperren oder Randalierer, und ließ ihn ohne irgendwelche Fragen den letzten Kilometer fahren. Mit dem Taxi kamen wir ziemlich nah ran ans Stadion. Vorbei an wenigen Privatfahrzeugen, die von den obligatorischen Einwinkern in die erstaunlicherweise vielen noch freien Parklücken gewunken wurden. Es wäre in Hamburg unmöglich, mit dem eigenen Auto bis zum Stadion vorzufahren.
Ich stieg aus und wurde noch einmal nervös. War das wirklich nicht zu gefährlich, dass ich hier so ganz alleine in dieser Nachbarschaft umherlief und in gerade dieses Stadion ging, welches für seine emotionalen Spielerlebnisse bekannt war?
Wie weit konnten die Emotionen hier gehen?
Ich sah an mir herunter und stellte fest, dass ich doch nicht perfekt gekleidet war: Flip-Flops, das einzige, was ich die letzten zwei Wochen an den Füssen getragen hatte. Für eine eventuelle Flucht vor einer Fanschlacht waren die definitiv nicht geeignet. Typisch Frau, modisch statt praktisch.
Das Stadion lag nun vor mir. Ich war tief beeindruckt. Weil es mir gelungen war, so weit zu kommen, obwohl das ganz offensichtlich überhaupt kein normales Tagesausflugziel ist. Dieser riesige blau-gelbe Betonklotz war nur noch wenige Meter entfernt, nichts hielt mich mehr auf. Ich hatte mir mein Ticket erobert, der Weg in die Bombonera war frei. Pralinenschachtel ist die deutsche Übersetzung, eigentlich wegen der besonderen eckigen Form mit den Balkonen statt Tribüne auf einer der Längsseiten. Aber so wie das Stadion jetzt gerade die Menschen anzog konnte man meinen, es gäbe drinnen wirklich Schokolade umsonst.
Um das jetzt unmittelbar vor mir liegende Erlebnis zu krönen, stoppte ich noch einmal und betrat einen der Souvenir-Shops gegenüber vom Stadion. Ich wollte mich als Fan kleiden und fand ein passendes Hemd in dunkelblau mit gelber Schrift. Ich zog es über mein T-Shirt und ging ich zurück über die Strasse, bis ich das Stadion berühren konnte. Und das tat ich dann auch. Andächtig und bewusst fasste ich das Stadion an, die gelbe Mauer, ohne dass jemand von den vielen anderen Besuchern, die an mir vorbei liefen, es bemerkte. Das war mein ganz eigener Glücksmoment, während alles um mich herum wie immer ablief für die Ordner.
Ich wollte ja nicht merkwürdig auffallen, das ist bei Einlasssituationen nie gut.
Meine Karte wurde eingerissen und die Ordner bedeuteten mir eine Richtung, um zu meinem Stehplatz zu gelangen. Mein Herz klopfte. Ich war wirklich im Stadion, ging hinter anderen Ausländerinnen, in Minirock und Flip-Flops gekleidet, die Treppe hinauf. Immer höher leitete mich die Beschilderung. Wo würde ich ankommen? Die Betonkonstruktion mit ihren dicken Wänden verbot jeglichen Blick ins Stadioninnere, während man die Treppenstufen Etage um Etage nach oben stieg.
Dann endlich war ich bei meiner Stehtribüne angekommen. Schockiert sah ich, dass sie bereits brechend voll war. Einfach alles war belegt, einzelne freie Plätze gab es nicht, ich sah vor mir nur massenhaft Menschen. Es waren doch noch zwei Stunden bis zum Spielbeginn. Hätte ich doch nur auf Tonys Tip gehört und wäre eher hergekommen.
Da bemerkte ich, wie die Neuankömmlinge hinter mir und um mich herum einfach in das Gedränge vorstießen und sofort darin aufgesogen wurden. In Deutschland wäre so was unmöglich. Da bewegt sich zum Beispiel bei Konzerten niemand auch nur einen Millimeter freundlich zur Seite, wenn jemand anderes vorbei möchte. Wie Steinsäulen stehen sie aggressiv auf der Stelle und der Klobesuch oder das Bierholen werden zum nervenaufreibenden Slalomlauf. Hier in Argentinien sind Menschen alle so viel entspannter. Ein paar Schritte nach vorn, und schon war auch ich inmitten des Gedränges verschwunden. Auf Fußspitzen quetschte und manövrierte ich mich im Zickzack soweit die Stufen hinunter, bis ich einen Platz gefunden hatte, der mir gefiel, um die nächsten Stunden dort zu verbringen, Schulter and Schulter mit anderen Fans. Ich konnte auf ein paar Zentimetern Beton sitzen, konnte auch im Stehen etwas sehen, was wollte ich mehr. Ich hatte meinem Platz im Stadion der Boca Juniors gefunden.
Unten auf dem Feld wurde bereits Fußball gespielt. Das irritierte mich, aber ich sah mich erst einmal weiter um. Über die dicke Steinmauer hinaus konnte ich in das ganze Viertel sehen und genoss das Panorama. Mein Blick schweifte zurück ins Stadion und ich sah mir die Menschen an, die mit mir hier waren, um das kommende Spiel zu erleben. Großväter mit ihren Enkeln, Männer und auch viele Frauen. Vor allem auch sehr viele Touristen, die leicht an ihrer Kleidung und äusseren Erscheinung auszumachen sind. Ausserdem an den farbigen Sicherheitsbenzeln am Handgelenk, als Wiedererkennungszeichen für die jeweiligen Reiseleiter.
Ich fragte einen von ihnen, was er bezahlt hatte für sein Ticket. 220 Pesos, mit Transfer, antwortete er. Ich wurde noch stolzer auf mich selbst, mit meinen 30 Pesos war ich keine Touristin und statt der Reisenden schon fast zu einer Einheimischen geworden.
Ich sah geradeaus auf die Gegentribüne. Dort, wo die Fankurve war, von der mir Tony abgeraten hatte, war noch niemand zu sehen. Ich fragte den Mann mit dem kleinen Kind neben mir, warum er nicht dort drüben war. Die Antwort kannte ich eigentlich, aber ich wollte es von ihm hören: Das ist viel zu gefährlich, sagte er tatsächlich. Hooligans. Sein Enkel nickte dazu. Wie gut, dass Tony mich gewarnt hatte.
Aber warum spielten die da unten denn schon, es war doch noch viel zu früh? Oder war ich viel zu spät? Es war ja auch schon so voll. Ich bemerkte, dass die Menschen auf meiner Tribüne nur zum Teil sehr aufmerksam waren und nicht alle das Spiel verfolgten. Ich hätte gern meine Banknachbarn gefragt, ob denn die Boca Juniors da unten schon spielten, aber es war mir zu peinlich. Nach einer Viertelstunde war ich so nervös, dass ich mir doch die Blösse gab. Mit nachsichtiger Stimme antwortete mir der Grossvater neben mir und ich wusste nun, dass es wie bei jedem Spiel die B-Mannschaft war, die da gerade auf dem Feld war. Also, so was wie die Vorband bei Konzerten. Interessant, ich fand das war eine gute Idee.
Dann ging das Hauptereignis los. Das Fussballspiel der Boca Juniors gegen das Team der Argentinos von einem anderen Verein innerhalb der Stadt begann. Als die Mannschaften einliefen, veränderte sich die Stimmung im Stadion sofort. Alle standen auf, schrieen, riefen, pfiffen. Ich war dabei, ein Teil dieser hysterisch fröhlichen Masse, ich fühlte mich gerade gar nicht mehr als Individuum, sondern als kleines Atom in einem großen Molekül. Ich ging in der Menge auf, in dem Stimmengewirr aller Stadionbesucher, überall drängten sich Körper friedlich aneinander, das Gemeinschaftserlebnis verband uns.
Ich sah mir ein paar Minuten das Spiel an, dann tat ich das, was ich am liebsten mache in vollen Stadien: Ich beobachte die Besucher, studiere ihre positive Stimmung und Euphorie, freue mich daran, wie sie ausgelassen lachen und johlen.
Die Gegentribüne war natürlich auch voll geworden. Genauer gesagt sie war zum Bersten voll. Ich blickte angestrengt hinüber, um diejenigen Zuschauer ausfindig zu machen, die dort Musik machten, welche im gesamten Stadion zu hören war und das ganze Spiel hindurch einen Wahnsinns-Lärm machte. Es wurde ohne Unterlass getrommelt. Ich konnte niemanden ausmachen aus der Ferne. Alles eine blau-gelbe wogende Einheit da drüben. Die ganz Harten standen sogar auf den Trenngittern, auf denen man normalerweise seine Arme abstützt. Sie standen die gesamte Zeit auf diesen Rohren, wie dicke Balletttänzer in der zweiten Position, quer zum Spielfeld, sich aneinander und der Mittlere von ihnen an einer von oben nach unten über die Tribüne gespannten Fahne festklammernd. Wie allerdings die Zuschauer dahinter dabei auch nur einen Blick aufs Feld erhaschen konnten, war mir ein Rätsel.
Abgesehen vom permanenten Getrommel wurde eifrig auf allen vier Seiten des Stadions gesungen. Schöne Texte, klar zu verstehen. Zum Beispiel: Boca vos sos mi vida vos sos la pasión solo te pido una cosa que salgas otra vez campeón – Boca, du bist mein Leben, du bist die Leidenschaft, ich bitte dich nur um eines, dass du wieder als Meister hervorgehst. Manche Lieder sangen sie so oft, bis ich mitsingen konnte. Das gab mir als Ausländerin ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit. Zu den Menschen um mich herum, als Gemeinschaft hier im Stadion, aber auch als wäre ich selbst Argentinierin.
In meinem Freudenrausch über die Menschen, den Jubel um mich herum, darüber, dass ich in dem Stadion war, in dem Diego Maradona berühmt wurde, verging die Zeit wie im Fluge. Als ich einmal über die Mauer blickte, sah ich, dass es dunkel geworden war, und das angestrahlte Gelb des Stadion-Innenbereiches leuchtete dadurch noch stärker unter dem Sternenhimmel. Es war, als thronte das Stadion über der Stadt. Ich stellte mir das als eine Filmanimation vor, meine Fantasie ging mit mir durch. Das gelbe Stadion schwebte hinauf in den dunklen Sternenhimmel, sich um sich selbst drehend, Strahler leuchteten es von der Erde aus an, als wären wir in einem Ufo. Wir flogen ins Universum.
Ein Pfiff ertönte, das Spiel war zuende. Ich erwachte wie aus einem Traum und blieb sitzen. Um mich herum blieben alle anderen auch auf ihren Plätzen. Niemand bewegte sich zum Ausgang, um das Stadion zu verlassen. Das kam mir erstmal gar nicht merkwürdig vor, ich fand es sogar ganz schön. Das ist wie im Kino, wenn man während des gesamten Abspanns noch sitzenbleibt und noch einmal im Zeitraffer das gerade Geschehene Revue passieren lässt.
Nachdem die gegnerischen Fans, die über uns auf der obersten Tribüne untergebracht worden waren, sicher abgereist waren, was eine gefühlte Ewigkeit lang dauerte, durften auch wir das Stadion verlassen und verteilten uns alle hinaus in die Nacht, in die unterschiedlichen Winkel von Buenos Aires, wie die Ameisen, die aus einem Haufen alle auf einmal auszogen. Jeder nahm seine ganz persönlichen Erinnerungen von diesem Abend mit nach Hause.
Am nächsten Morgen sass ich im Flugzeug nach Deutschland über dem Atlantik und schlug die Tageszeitung auf. Der Sportteil war überwiegend dem gestrigen Spiel und dem Verein gewidmet. Hier erfuhr ich, dass der Bericht, dessen Bruchteile ich im Radio des Taxis auf dem Weg zum Stadion gehört hatte, tatsächlich dem Spiel, das ich besucht hatte, gegolten hatte. Zwei rivalisierende Gruppen desselben Vereins hatten um die Leitung des Fanclubs gekämpft und waren tatsächlich als Hooligans einzustufen. Dabei wurde eine alte Dame aus Versehen angeschossen und schwer verletzt. Einer der Kämpfer lag nach einem Schlag mit der Faust ins Gesicht im Koma.
Ich war froh, dass ich das am Vortag nicht richtig mitbekommen hatte, vermutlich wäre meine Euphorie ziemlich gedämpft worden. Es wurden noch weitere unschöne Geheimnisse über diesen Fanclubs offenbart. So waren nur deshalb noch kurz vor Spielbeginn Parkplätze direkt vor dem Stadion frei gewesen, weil die Vergabe von den Mächtigen des Fanclubs kontrolliert wurden.
Und auch die teuren Touristentickets werden von dieser Fan-Gruppe vergeben, zu eben den hohen Preisen. Deshalb bekommt man zu diesen Konditionen immer noch ganz kurzfristig Tickets. Die Überteuerung bemerken die Ausländer oft nicht wegen des günstigen Wechselkurses. Jetzt ärgerte ich mich über diese Geschäftemacherei, die direkt aus den Reihen der Fußballfans kam.
Nachdem ich alle Artikel gelesen hatte, verstand ich plötzlich, warum Marias Freunde, die ja Mitglieder des Boca-Vereins waren, behauptet hatten, es gäbe nur den Wiederverkauf durch die Vereinsmitglieder. Für den Fanclub war die Macht über den Verkauf mehr als wichtig: es ging um sehr viel Geld.
Ich war entsetzt über diese harte Realität, von der ich bis dahin nichts gewusst hatte und von der man bei einem Stadionbesuch auch nicht unbedingt etwas merkt, wenn man nicht so genau hinsieht wie ich.
Trotzdem werde ich bei meiner nächsten Reise nach Argentinien wieder in dieses Stadion gehen. Und nichts wird mich daran hindern, mich wieder über die ganzen fremden Menschen und mit ihnen zu freuen und ausgelassen zu jubeln und mitzusingen. Schließlich weiß ich jetzt, wie ich an der Ticketmafia vorbei komme und Unglücke passieren nicht jeden Tag.
Sommerakademie 2009 in der Honigfabrik – Schreibprojekt
© Copyright J.R. Kirsten |
Leave a Reply